- Startseite »
- Archiv »
- Dokumentation 2006 »
- Pressetexte 2006 »
- "Wir arbeiten auf Augenhöhe miteinander"
"Wir arbeiten auf Augenhöhe miteinander"
epd sozial Nr. 3, 20. Januar 2006:
Integrative BeB-Tagung über Selbstbestimmung behinderter Menschen
Berlin (epd). Erstmals hat der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) einen Kongress organisiert, an dem behinderte Menschen von der Vorbereitung bis zur Abschlusserklärung gleichberechtigt mitarbeiten. Die integrative Tagung mit dem Titel "Einmischen – Mitmischen –Selbstmachen!" findet vom 24. bis zum 26. Januar im brandenburgischen Rheinsberg statt.
Unterstützt wird das Projekt von der Aktion Mensch und der Fürst Donnersmarck-Stiftung für Körper- und Mehrfachbehinderte. Für deren Sprecher, Thomas Golka, waren schon die Vorbereitungstreffen "das gelebte Motto der Tagung: Nichts über uns ohne uns". In der 13-köpfigen Gruppe, die sich sechsmal traf, hatten sich behinderte und nichtbehinderte Teilnehmer gleichberechtigt zusammengefunden. "Wir haben stets auf Augenhöhe miteinander gearbeitet", sagt Golka.
Die Nachfrage hat die Erwartungen der Planer übertroffen. 220 Menschen werden an der Tagung im Haus Rheinsberg teilnehmen, weiteren einhundert Interessenten musste abgesagt werden. Obwohl eine Podiumsdiskussion mit der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karin Evers-Meyer (SPD), und den behindertenpolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen vorgesehen ist, stehen Forderungen an die Politik in Rheinsberg aber nicht im Mittelpunkt.
Vielmehr wollen sich die Teilnehmer in Arbeitsgruppen Zeit nehmen, ihre eigenen Erfahrungen auszutauschen. Es geht um zwei Themen: Wie können wir unsere Interessen selbst vertreten? und: Wie können wir selbstbestimmt leben? Michael Conty aus dem erweiterten BeB-Vorstand sagt, die Tagung wolle zur eigenständigen Interessenvertretung ermuntern: "In der etablierten Behindertenhilfe reden Menschen mit Behinderung noch zu wenig mit." Im Einzelnen soll es um die Arbeit in den Beiräten der Werkstätten für behinderte Menschen , um Einflussmöglichkeiten von Heimbeiräten bei "Stress im Wohnheim" oder um Erwachsenenbildun gehen.
Wie will ich wohnen? Wie komme ich mit meinem Partner zurecht? Welches Verhältnis habe ich zu meinen Eltern? Wie gehe ich im Alltag mit meinen Assitenten und Helfern um? Das sind die Fragen, die sich die Teilnehmer zum Thema selbstbestimmtes Leben stellen werden.Ursula Raphael, die den Kongress als Angehörige mit vorbereitet hat und beruflich als gesetzliche Betreuerin arbeitet, meint: "Die Angehörigen können viel voneinander lernen. Und in Rheinsberg werden sie außerdem Menschen mit Behinderungen treffen, die sich in wunderbarer Weise selbst vertreten."
Dem Programm und den Regeln, die zum Ablauf des Kongresses beschlossen wurden, sieht man die Beteiligung aller Gruppen an. So sind Ablauf und Arbeitsgruppen in einfacher Sprache erklärt, damit geistig behinderte Menschen das Programm auch allein verstehen können. In Anlehnung an das Netzwerk People First, das in Deutschland seit kurzem "Mensch zuerst" heißt, nennen sie sich übrigens nicht länger "geistig behindert", sondern "Menschen mit Lernschwierigkeiten".
Auch die Regeln für den Umgang miteinander in den Arbeitsgruppen hat die Vorbereitungs-Crew in Anlehnung an "Mensch zuerst"-Gepflogenheiten formuliert: Niemand wird ausgelacht, jeder redet freiwillig, man hört zu und lässt den anderen ausreden. Sven Waldmann, Vorstand von "Stolpersteine", einer thüringischen Selbsthilfegruppe, sagt: "Die Regeln für den Kongress haben wir gemeinsam geschaffen, wir werden sie auch gemeinsam achten." Jeder Teilnehmer bekommt zudem eine rote Karte. Wenn er sie während einer Diskussion hoch hält, signalisiert er dem gerade Sprechenden: Ich habe dich nicht verstanden, weil du so geredet hast, dass ich dich nicht verstehen konnte. So werden alle Teilnehmer auch während der Veranstaltungen an die Verwendung leichter Sprache erinnert.
Eva Luise Köhler, die Frau des Bundespräsidenten, hat der Rheinsberger Tagung in einem Grußwort bereits viel Erfolg gewünscht. Die Bereitschaft von Bürgern und Bürgerinnen mit Behinderungen, ihre eigenen Erfahrungen und ihre Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben einzubringen, sei eine wesentliche Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Arbeitsleben.
Bettina Markmeyer